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Die Welt als Raumschiff und intelligente Knappheit als ästhetische Haltung

10. Januar 2024

Seit Ende letzten Jahres ist Juan Pablo Molestina Landesvorsitzender des BDA NRW. Der gebürtige Ecuadorianer führt seit 30 Jahren das Büro Molestina Architekten in Köln. Noch länger ist er in der Lehre tätig; bis 2018 als Dekan an der Peter Behrens School of Arts der Hochschule Düsseldorf. Von 2011 bis 2017 war er im Vorstand des BDA Köln aktiv.
In einem Interview anlässlich seines Vortrages auf der Architect@Work in Düsseldorf mit dem Titel „Japan – Konzeptioneller Leichtbau“ gab er einen Einblick in seine Haltung, seine Erfahrungen und Ziele:

© Max Brunnert

Sie sind in Ecuador geboren. Wie sehr prägt ihre Kindheit heute noch ihr Tun als Architekt? Haben Sie etwas mitgenommen, was Sie immer begleitet?

In der Architektur ist es das ‚Informelle‘, die Art und Weise, wie Menschen mit wenigen Mitteln die Welt für sich gestalten. Es entsteht eine Art Ordnung, die sich aus dieser Optimierung der Ressourcen ergibt. Architektur deckt genau das ab, was man braucht, und nicht mehr. Daraus bezieht Sie ihre Bedeutung. Es gibt keine Allüren. Diese Grundhaltung, das Gegenteil von Üppigkeit, ist eine Strategie des Umgangs mit einer Art intelligenter Knappheit. Eine nüchterne und sinnvolle Optimierung des Wenigen, das man hat, die in ihrer Konsequenz sogar eine Art ästhetische Haltung darstellt. Dieser Charakterzug kann durchaus eine Grundhaltung für Architektur werden.

Vor exakt 30 Jahren haben Sie Ihr eigenes Architekturbüro gegründet. Mit welcher Mission und Vision haben Sie damals begonnen?

Neben der Existenzsicherung ging es darum, eine Art reduzierte, direkte Haltung zur Architektur zu verwirklichen. Aus dieser Zeit stammen die einfachsten und für mich bis heute schönste Projekte: das Haus Beyers, das Haus Kimmerle, kleine, einfache Projekte mit einer konstruktiven Direktheit.

Von einer Vision kann ich nicht sprechen. Es war eher ein Bauchgefühl, die Idee, dass man den Firlefanz vieler Architekturschaffender ein Stück weit beiseite schieben könnte und sich den grundsätzlichen gestalterischen und räumlichen Aufgaben, die hinter den unterschiedlichsten Projekten stehen, unmittelbar und direkt in konstruktiven und formalen Ausformulierungen widmen könnte. Wir versprachen uns davon eine besondere Frische und Unkompliziertheit in den Lebensräumen der Menschen, die sich auch in den ersten Projekten eingestellt hatte.

Wenn Sie sich die (Bau-)Welt heute ansehen: Waren Sie damals zu optimistisch? Was hat sich verändert?

Nein, wir waren nicht zu optimistisch. Wir haben vielleicht nur gedacht, dass alles viel schneller geht.

Wenn sich etwas geändert hat, womit ich nicht gerechnet habe, dann ist es die lähmende Regelungswut heute. In dem Moment, in dem man den kleinen Aufgabenbereich des ‚Bauens für Freunde‘ oder des ‚kleinen Hausanbaus‘ verlässt und sich zum Beispiel in den Aufgabenbereich des geförderten Wohnbaus begibt, betritt man heute einen Raum voller widersprüchlicher Anforderungen. Die Vernunft und Lebensfreude der zukünftigen Nutzer in den Projekten werden dabei unterschätzt. In unserem nicht enden wollenden Streben nach mehr Komfort und Sicherheit in allen Lebensbereichen schießen wir heute meines Erachtens über das Ziel hinaus und drohen den Elan für Innovationen und frische Denkansätze zu ersticken. Das ist eine Entwicklung zum Schlechten, die besonders in Deutschland zu beobachten ist.

Wo definieren Sie als Architekt Ihre Schwerpunkte?

Wir sind entwerfende Architekten. Wir lieben es, Probleme zu lösen. In der Definition des Problems liegt schon 80% der Lösung, insofern ist eine Art analytischer Umgang mit Aufgaben für uns sehr wichtig und das lässt sich auf alle möglichen Bautypologien anwenden. Das zeigt auch unser breites Spektrum an Praxisprojekten, das von Bürogebäuden über gewerbliche Nutzungen bis hin zu öffentlichen Bauten reicht. Aktuell verstärkt im Bereich Wohnbau und Schulbau.

Das diesjährige Begleit-Thema der Architect@Work war „Leichtbau“. In Ihrem Vortrag verweisen Sie auf japanische Herangehens- und Bauweisen. Was ist das Besondere daran? Und warum gerade Japan?

Wenn man von japanischer Architektur spricht, meint man nicht nur die Bauten, die auf der Insel Japan entstanden sind, sondern auch die Leichtbauweise, die ihren Ursprung in China und Korea hat.

Diese Leichtbauweise hat viele Eigenschaften, die sich von denen bei uns unterscheiden. Während wir uns architektonische Objekte oft als feste, unbewegliche, funktional fixierte Bauten in der Stadt/Landschaft vorstellen, ist die Architektur in Japan in ihren Funktionen wandelbar und verändert sich mit den Jahreszeiten und Tagesabläufen.

Die japanische Architektur, für die ich mich interessiere, betrachtet Architektur als Teil der natürlichen Landschaft. Wesentliche Eigenschaften der Landschaft, wie die Anpassungsfähigkeit von Pflanzen und Tieren an die Jahreszeiten und der sensible Umgang mit der Topografie, werden zu Attributen guter traditioneller japanischer Architektur.

Die Leichtigkeit der sogenannten japanischen Architektur ist sicherlich ein Symbol für eine Haltung gegenüber dem Bauen in der Natur, die wir heute in unseren Breitengraden gut gebrauchen können.

Stichwort Kreislaufwirtschaft: Wie wichtig erscheint Ihnen Cradle-to-Cradle-Prinzip? Wie praxistauglich schätzen Sie es ein? Wie weit ist Europa in diesem Punkt? Wo braucht es noch ein Umdenken?

Das cradle-to-cradle Prinzip wurde bereits in den 1990 Jahren entwickelt, es stellt nicht nur für die Bauwirtschaft hinaus einen geschlossenen Ressourcenkreislauf dar und ist damit eines der dringlichsten Handlungsprinzipien unserer Zeit. Die Baubranche hat einen wesentlichen Anteil am Rohstoff und Energieverbrauch, also kann hier das Umdenken zu c2c sehr positive Auswirkungen haben. Nun müssen wir bereits im Entwurf an spätere Rückbaubarkeit und Recyclingfähigkeit denken, legen mit dieser Berücksichtigung den Grundstein für die zukünftige Praxis der Wiederverwertung der Baustoffe. Hilfreich wäre ein Umdenken hin zu einem „einfachen Bauen“, wie es Florian Nagler vorgemacht hat, mit weniger komplexen Verbundbaustoffen und Klebeverbindungen zwecks Abdichtung und Dämmung.

Der Bezug der Architektur zum Ort, an dem Sie gebaut wird, scheint für Sie unumgänglich zu sein. Viele Wettbewerbe werden international ausgeschrieben und immer wieder von jemanden gewonnen, der nicht mit dem Ort vertraut ist. Entsprechend fallen dann auch die Entwürfe aus. Sehen Sie das kritisch und wie viel Auseinandersetzung darf man diesbezüglich von einem Architekten erwarten?

Es gibt viele Möglichkeiten, einen ‚Ortsbezug‘ herzustellen: Durch den Standort, die Topografie oder die Baumaterialien, aber auch durch die Funktion; das Angebot, das ein Projekt seiner Umgebung macht. Gute Wettbewerbsverfahren fördern diesen Ortsbezug bereits in der Ausschreibungsphase.

Bei manchen Wettbewerben merkt man den fehlenden Ortsbezug in der Aufgabenstellung. Sie werden auf der falschen Grundlage ausgeschrieben. Das ist bedauerlich und kann letztlich nicht nachhaltig sein.

In Europa ist der Bodenverbrauch drastisch hoch, allen voran in Österreich, das schon jetzt nicht mehr imstande wäre, sich selbst zu versorgen, weil die Agrarflächen nicht mehr ausreichen. Dazu die einsetzenden Folgen des Klimawandels. Wie stehen Sie dieser Problematik gegenüber und was können Architekten dazu beitragen, dass diese Entwicklung eingedämmt oder gestoppt wird?

Wie zuvor bereits thematisiert, sind wir alle zu ressourcenschonendem Handeln verpflichtet. Wichtiges Handlungsfeld an der Schnittstelle zwischen Städtebau und Architektur ist hinsichtlich des allgegenwärtigen Bodenverbrauchs die (Nach-) Verdichtung unserer Städte. Wir beschäftigen uns aktuell in unterschiedlichen Projekten mit kulturellen und gewerblichen Sonderbauten, mit Möglichkeiten der Sanierung und Umnutzung, auch mit den Erweiterungen und Neubau möglichst nutzungsflexibler Gebäude für die Zukunft.

Die Reduzierung öffentlich-rechtlicher Anforderungen an Gebäude, aber auch das Infrage-Stellen individueller Bedarfe sind weitere Aspekte einer möglichen Eindämmung der von Ihnen aufgezeigten Entwicklung.

In Ihrem Portfolio finden sich viele Schulen und Verwaltungsgebäude, aber auch Alten- und Pflegeheime sowie Wohnbauten? Wohnen steht eng in Zusammenhang mit demografischen Entwicklungen. Wie sehen Sie die Zukunft des Wohnbaus in Hinblick auf die stark wachsende Urbanisierung unter dem Aspekt von Soziales und Platzangebot? Wie viel Raum braucht der Einzelne, wie viel bekommt er?

Der Wohnungsbau stellt einen wesentlichen Pfeiler unserer Bürotätigkeit dar, neben prestigeträchtigen individuellen Wohnhäusern ist dabei der Geschosswohnungsbau für regionale Genossenschaften, häufig mit hohen Anteilen an öffentlich gefördertem Wohnungsbau, eine über langen Jahren erarbeitete Stärke unseres Architekturbüros. Architektonische Qualität drückt sich unserem Verständnis nach auch aus in der Ausformulierung und Parallelität von privatem und öffentlichen Raum sowie den Übergängen zwischen Ihnen. Beide Pole sind grundlegende Voraussetzungen für ein gesundes Wohnumfeld, für gute Nachbarschaften. Zur Stärkung individueller Ausprägung des Wohnraums sehen wir Potenzial in der Schaffung von nutzungsflexiblen Räumen mit weniger festen Vorgaben, wie sie bspw. in Köln noch viele gründerzeitliche Bauten bieten.

Sie unterrichten heute selbst Studenten. Was möchten Sie den jungen Leuten mitgeben?

Schon Buckminster Fuller beschrieb die Welt als ein Raumschiff, in dem sich alle Systeme ständig gegenseitig unterstützen und anpassen. Vielleicht muss man erst alt werden, um als Architekt wirklich zu verstehen, wie zutreffend diese Beobachtung ist. Nichts existiert unabhängig von etwas anderem, auch Architektur und Städtebau nicht. Ganzheitliches Denken ist der Schlüssel zu einem adäquaten Umgang mit unserer Zukunft, nur in der Gesamtbetrachtung räumlicher und sozialer Phänomene können die Denkprozesse durchgespielt werden, die die Grundlage für nachhaltiges Entwerfen bilden.

Das Interview führte Barbara Jahn. Es wurde erstmals am 28. November 2023 im Newsletter der Messe Architect@Work hier veröffentlicht.