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ARCHITEKTUR DER BESCHEIDENHEIT – Vortrag von John von Düffel auf dem BDA-Tag in Chemnitz am 10.6.2023

27. Juni 2023

EIN PAAR GEDANKEN ZU EINER „ARCHITEKTUR DER BESCHEIDENHEIT“ UND DEN WEG DER REDUKTION

Vortrag von John von Düffel auf dem BDA-Tag in Chemnitz am 10.6.2023

Till Budde
Till Budde

Die Vorrede

DAS WENIGE UND DAS WESENTLICHE heißt das Buch, dem ich diese ungewöhnliche Einladung zum BDA-Tag nach Chemnitz verdanke. Es ist der Versuch einer Umdeutung und Umwertung des Begriffs der Askese vom Negativen ins Positive – so wie Sie es hier auf dieser Tagung mit dem Begriff einer „Architektur der Bescheidenheit“ versuchen. Eine solche Neubewertung ist aus vielen Gründen geboten, aber alles andere als leicht. Mindestens genauso schwer ist der Versuch einer Transformation der Askese der Vergangenheit – dem religiös motivierten Akt des Verzichts – in eine Askese der Zukunft, die Teil eines anders gelebten, weltlichen Alltags sein will im Umgang mit dem Zuviel an Konsum und Ressourcenverbrauch.

DAS WENIGE UND DAS WESENTLICHE ist kein Essay, sondern ein persönlicher, verdichteter Text, der der Frage nachgeht: Wie lebe ich richtig? Es ist erzählende Philosophie, die nicht absieht von der Zeit und dem Raum eines Gedankens, von seiner Herkunft. Sie abstrahiert und generalisiert nicht ohne Ansehen der Person, sondern beschreibt immer auch den eigenen Standpunkt: die Umstände des Denkens und ihre Wechselwirkungen mit dem, was gedacht wird. Ein solcher Gang durch die Räume und Landschaften ist immer auch ein Gedankengang durch die Stunden eines Tages mit ihrer spezifischen Stimmung und Wahrheit. In diesem Sinne handelt es sich um „ein Stundenbuch“.

Zu Beginn des Buches stelle ich mir die grundsätzliche Frage: „In welcher Geschichte bin ich?“ Im Text sage ich „ich“, weil mir Bücher suspekt sind, die umstandslos „wir“ sagen. Wenn ich hier und heute vor Ihnen WIR sage, dann nur, weil klar ist, wer damit gemeint ist: SIE, die Sie hier sitzen, und ich, der ich vor Ihnen stehe. Sie haben anschließend Gelegenheit, mir zu widersprechen, Fragen zu stellen, Bemerkungen zu machen. Insofern rede ich von einem WIR, das kein abstraktes ist, sondern hoffentlich in einem vielstimmigen Gespräch stattfindet. Nun also …

Die Rede

In welcher Geschichte sind wir?

In der Geschichte einer Veränderung. Einer gewaltigen, beschleunigten, immer schneller werdenden Veränderung.

„Es kann so nicht weitergehen, es kann kein Weiter-So geben“, sagen viele. Die Wahrheit ist: Es wird so nicht weitergehen. So oder so.

Das So-oder-So ist die Frage. Nicht das OB der Veränderung, sondern das WIE.

Die Veränderung, in der wir sind, ist eine Veränderung aller Bedingungen und Bedeutungen.

Die zyklische Zeit der Natur, die Wiederkehr von Frühling, Sommer, Herbst und Winter vermittelt uns ein beruhigendes Gefühl der Wiederholung, eine Illusion von Beständigkeit, Vertrautheit, Kontinuität – eine Illusion, die wir uns nur allzu gern vermitteln lassen!

ABER:

Es ist nicht mehr dieselbe Sonne.

Es ist nicht mehr derselbe Regen.

Es ist nicht mehr dasselbe Grün.

Es ist kein wiederkehrender Zyklus von Jahreszeiten.

Es sind nicht mehr vier!

Wir sind in der Geschichte einer elementaren, existenziellen Veränderung. Und das heißt auch: Unsere Geschichte verändert sich, Bedeutungen kehren sich um, Koordinaten verschieben sich: Was einmal richtig war, kann jetzt falsch sein. Was immer schon falsch war, wird noch falscher. Bis es gar nicht mehr geht.

Wo kommen wir her?

Wo stehen wir?

Wo gehen wir hin?

Ich mache es kurz: Wir sind heute bei 1,14 Grad Erderwärmung gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter. Jetzt!

Also, wo gehen wir hin?

 

Die alten Griechen gingen bei den großen Zukunftsfragen zum Orakel von Delphi, um sich im Tempel des Apollon die Zukunft weissagen zu lassen: von Apollons Priesterin Pythia, die im Ethylen-Rausch, im ekstatischen Tanz vor sich hinsprach, was „der Gott“ ihr eingab. Fast all ihre Orakelsprüche waren fatal. Sie waren nicht falsch, aber sie hatten einen Doppelsinn und trafen auf ganz andere Weise ein als gedacht – so und nicht so.

Der Doppelsinn des Orakels war allerdings noch umfassender.

Wer es befragen wollte, ging durch zwei Tore mit Inschriften.

Auf dem ersten Tor stand: „Erkenne dich selbst!“

Auf dem zweiten Tor stand: „Alles in Maßen!“

 

Das war schon die Antwort auf die Frage nach der Zukunft.

Eine andere gibt es nicht.

„Erkenne dich selbst!“ und „alles in Maßen!“ – diese beiden Maximen des Orakels, diese Imperative der Zukunft gehören zusammen.

Man muss sich erkennen, seine Bedürfnisse, seine Irrtümer, Übertretungen und Maßlosigkeiten, um zu wissen, was das richtige Maß ist. Das Maß ist nicht nur eine architektonische Relation, sondern auch eine Verhältnisgröße, bezogen auf das sich erkennende Selbst und die Welt.

Das richtige Maß betrifft das Verhältnis des Individuums zu allem: zur Gesellschaft, zur Natur, zu sich selbst. Es ist das Erkennen und Anerkennen der eigenen Verbundenheit mit anderen, dem Anderen, die Maßeinheit des Selbst- und Weltverhältnisses.

Die Frage nach dem richtigen Maß, nach der Entsprechung von Wollen und Brauchen, Sein und Haben, ist so alt wie das Denken überhaupt. Ihr Leitbild ist das GENUG.

Das Genug steht im Zentrum der asketischen Denkweise. Ihr Ideal ist nicht der Verzicht auf möglichst alles, nicht die Beschränkung auf das Allerwenigste: sondern das richtige Maß. Eine Art, den Bedürfnissen gerecht zu werden. „Bedürfnisgerechtigkeit“. Die Askese der Zukunft kommt aus der Einsicht in die Notwendigkeit der Reduktion und Zurücknahme, und sie versucht sich in der Kunst des Weglassens.

Die asketische Denkweise sucht nach einer Antwort und einer Praxis im Umgang mit dem Zuviel: dem Zuviel an Konsum, an Verbrauch von Ressourcen und ihrer ungerechten Verteilung.

Vorherrschend ist aber eine ganz andere, weitaus mächtigere Logik und Lebensweise: das akkumulative Denken, das aus dem Mangel kommt. Es strebt nicht nach dem Maß, sondern dem Maximum, nach mehr und immer mehr.

Auch diese Denkweise ist so alt wie die Menschheit, schließlich ist der Mensch primär ein Mangelwesen. Aus dem Mangel kommt der Drang, der Schrei nach mehr, der Kampf darum. „I want more“, sagt Oliver Twist bei der Speisung im Waisenhaus in dem Roman von Charles Dickens.

Auch wenn der Mangel fürs Erste beseitigt ist, treibt und befeuert die Angst vor dem Mangel, der wiederkommen könnte, das Mehr und Immer-Mehr. Es ist die Vorsorge, das Sich-Wappnen, die Zurüstung auf die Zukunft: Mehrung, Besitz, Reichtum! – Reichtum ist gewissermaßen die Pyramide des Diesseits, eine Demonstration von Größe und Macht, die dem Mangel trotzt wie für alle Zeit.

Je erfolgreicher das Mangelwesen wirtschaftet (die Natur kultiviert und ausbeutet, in aller Ambivalenz), desto schneller wird aus dem Zuwenig ein Mehr und aus dem Immer-Mehr ein Zuviel.

Doch auch dieses Zuviel scheint in der Logik des Mangels nicht genug. Die Erinnerung an den Mangel ist eine treibende, produktive Kraft, eine rastlose, schier unermüdliche Unruhe, Sorge, Vorsorge – hat man jemals wirklich ausgesorgt? Aus dieser Angst, diesem Antrieb heraus häuft die akkumulative Denk- und Lebensweise mehr und immer mehr an und auf.

Es gibt einen Wendepunkt, einen Kipppunkt, an dem aus der Wirtschaft des Mangels eine Wirtschaft des Zuviel wird, die längst nichts mehr mit der Befriedigung von Bedürfnissen zu tun hat und auch nicht mit „dem Streben nach Glück“. Und dennoch: Selbst im Zuviel wollen die meisten immer noch mehr – während andere zu wenig haben.

Es stellt sich die Frage: In welcher Geschichte sind wir, an welchem Punkt der Geschichte? An einem Punkt des Zuviel oder des Zuwenig? Und mit welchen Antworten und Entscheidungen begegnen wir dem? Wie machen wir weiter? Halten wir uns an die akkumulierende oder die asketische Denk- und Lebensweise?

Das Asketische und das Akkumulative sind zwei gegensätzliche Logiken, zwei konträre, einander widersprechende Wertesysteme.

Aus Sicht des Mangels ist das Wenige das Allerschlimmste und das Weniger ein Schreckgespenst: Wohlstandsverluste! Wachstumsrückgang! Rezession!

Aus Sicht des Maßes ist das Wenige das Ziel: nicht das Weniger an sich, sondern das Wenige, das genug ist.

Die asketische Denkweise ist ausgerichtet auf das richtige Maß, die akkumulative Denk- und Lebensweise auf das Maximum. In der Steigerungslogik des Mehr und Immer-Mehr wird daraus das Maßlose.

Das Maßlose ist für die akkumulative Denkweise nicht nur legitim, sondern ihr höchster Wert: Das Meiste ist der Maßstab des Erfolgs.

Der Akkumulation verdanken wir vermutlich unser Leben. Sie war die beste Strategie in Zeiten des Mangels. Doch sie ist die schlechteste Strategie in Zeiten des Zuviel.

In einem auf Akkumulation ausgerichteten System, in dem das Meiste der Maßstab ist, haben alle zu wenig. Sogar derjenige, der das Meiste hat, wird immer mehr aufhäufen, um nicht im nächsten Moment überrundet zu werden und auf einmal weniger zu haben als andere.

Selbst die Reichen sind in einer akkumulativen Gesellschaft relativ arm, verglichen mit den Superreichen. Die Mitte dieser Gesellschaft, die sich an ihnen orientiert, hat im Vergleich relativ wenig. Und die, die absolut zu wenig haben, sind nach diesen Maßstäben nicht einmal Teil des Wettbewerbs und spielen keine Rolle. Aus Sicht des Systems sind und bleiben sie Akkumulationsversager.

Die relative Armut einer reichen Gesellschaft ist der Antrieb für noch mehr Akkumulation. Sie tritt an die Stelle des Mangels, dem die akkumulative Denk- und Lebensweise ursprünglich abhelfen sollte. Durch die Angst vor dem Zuwenig erhält das Prinzip sich selbst – auch im Zuviel.

Das Leitbild des quantitativen Wachstums im Sinne des BIP ist eine Kenngröße der Angstgetriebenheit der akkumulativen Gesellschaft. Sie vergleicht sich Quartal für Quartal mit sich selbst und misst sich unter der Maßgabe des Mehr und Immer-Mehr.

Mit dem proklamierten „Streben nach Glück“ als Grundrecht eines jeden Individuums hat das nichts tun. Der Bewertungs- und Erwartungsdruck der akkumulativen Denkweise, mehr erwirtschaften zu müssen, Jahr für Jahr, sitzt den Einzelnen im Nacken. Auch sie stehen unter dem Wachstumsdiktat der Quantität. Somit werden sie beim Blick auf die Fülle vor allem den Mangel sehen und das anvisieren, was fehlt, was andere haben und sie nicht. Ein Genug darf es nicht geben und auch keine nachhaltige Zufriedenheit, von Dankbarkeit ganz zu schweigen.

Die ungleiche Verteilung, über die politisch so viel gestritten wird, ist kein Kollateralschaden, sondern integraler Bestandteil des akkumulativen Prinzips, sein Antrieb.

Dass die Reichen immer reicher werden und die Armen immer ärmer, ist kein Fehler im System, es ist das System.

Die Akkumulation der einen ist die Ausbeutung der anderen. Das Maximum für mich heißt das Minimum für die anderen, möglichst nichts für die natürlichen Ressourcen, die ich beanspruche, und nicht das Geringste für die Naturzerstörung, die ich hinterlasse.

Akkumulation und Ausbeutung sind zwei Seiten desselben Prinzips: die Akkumulation des Gewinns auf der einen Seite und der Kosten auf der anderen Seite.

Die Steigerungslogik strebt nach mehr und damit nach mehr Ungleichheit, nicht nach einem Gleichgewicht, weder sozial noch ökologisch. Deswegen prallt der Vorwurf der Ungerechtigkeit und Naturzerstörung an ihr ab. Raubbau und Ausbeutung werden für sie erst dann zu einem Faktor, wenn sie anfangen, den Gewinn auf der eigenen Seite zu schmälern.

Selbstverständlich muss sich auch das asketische Denken in seinem Streben nach dem richtigen Maß fragen lassen, von welchem Standpunkt der Ungleichheit es sich entwirft. („Check your privileges!“)

Auch Diogenes, der mittelloseste Asket aller Zeiten, der im antiken Athen als Philosoph in einer Tonne lebte, ist kein Armer. Er hat sich dafür entschieden und das Wenige gewählt, statt dazu gezwungen zu sein.

Die asketische Lebensweise ist das Privileg, von seinen Privilegien so wenig wie möglich Gebrauch zu machen. Diogenes liebte es, über den Markt von Athen zu schlendern und sich am Anblick all der Waren zu erfreuen, die er nicht braucht.

Konsum ist nicht Genuss, auch wenn uns das jede Werbebotschaft vorspiegelt. Genuss ist eine Geisteshaltung, Konsum ist Verbrauch, für den man zahlt.

Man muss sich Diogenes als den glücklichsten Einkaufsbummler vorstellen.

Durch die Ausrichtung auf das richtige Maß löst sich das asketische Denken aus den Zwängen und dem Bezugssystem der Steigerungslogik. An die Stelle des Mehr und Immer-Mehr tritt das Genug. Es hebt die eigene relative Armut auf. Nicht aber die absolute.

Auch wenn die asketische Lebensweise weniger Ressourcen beansprucht und im Idealfall freigibt, werden die Verteilungsungerechtigkeiten nicht aufhören. Das zu glauben, wäre naiv. Doch genauso naiv ist es zu glauben, die akkumulativen Ungerechtigkeiten und Unterschiede ließen sich aufrechterhalten – auf lange Sicht.

Die akkumulierenden Gesellschaften, die, von relativer Armut getrieben, absolute Armut und Verelendung außerhalb ihrer Grenzen produzieren, werden mehr und mehr von denen heimgesucht werden, die absolut zu wenig haben.

Der Leidensdruck des absoluten Zuwenig – des Mangels an Nahrung, Obdach, Sicherheit – ist mächtiger als jede Antriebskraft der relativen Armut. Der absolute Mangel entkräftet den relativen. Er wird die Feinheiten und Ausdifferenzierungen der kapitalhierarchischen Wohlstandgesellschaften irgendwann überrollen. Es ist eine Frage der Zeit. Einer Zeit, die wir nicht haben und die sich mit der Veränderung rasant verkürzt.

So oder so: Alle Relationen der Steigerungslogik enden an der absoluten Grenze des Planeten.

Über das Zuviel und Zuwenig entscheidet in letzter Instanz kein Wirtschaftssystem, kein Staat und kein Militär. So sehr wir uns auch in der Vorstellung der Verfügbarkeit von allem gefallen („nichts ist unmöglich“), die Belastungsgrenze des Planeten ist unverfügbar.

Wenn wir Jahr für Jahr mehr Erden verbrauchen als wir haben, haben wir bald keine mehr. Das Ende der natürlichen Ressourcen ist das Ende unserer Welt.

Im Überschreiten der Belastungsgrenze schlägt Wachstum um in Vernichtung. Die Überlebensstrategie der Akkumulation verkehrt sich in die systematische Zerstörung der eigenen Lebensbedingungen. Selbsterhalt wird Selbstauslöschung.

Das Zuviel für den Planeten ist für uns – und ausnahmsweise meine ich „uns alle“ – ultimativ. (Durch das von Menschen gemachte Artensterben wird der Mensch zur sterbenden Art.)

Es geht so nicht weiter. So oder so nicht.

Die einzige Frage, bei der wir noch ein wenig mitzureden und mitzuentscheiden haben, betrifft unseren Umgang mit der rasanten Veränderung, die das Leben auf diesem Planeten gefährdet. Nehmen wir sie wahr oder verschließen wir vor ihr die Augen? Versuchen wir sie, so weit wie möglich, positiv zu beeinflussen, resignieren wir vor unserer Unverbesserlichkeit oder folgen wir dem akkumulativen Prinzip bis ins Letzte, um noch so viel möglich für uns rauszuholen nach dem Motto: „Nach uns die Sintflut!“ – Eine Metapher, die buchstäblich wahr zu werden droht.

Inwieweit können und wollen wir Subjekt oder Objekt der Veränderung sein, ihr Gegenstand oder ihr Mitgestalter?

Auf welcher Seite der Veränderung stehen wir?

Die Trennlinie zwischen der akkumulativen und der asketischen Denkweise verläuft mitten durch uns hindurch. Sie materialisiert sich im Wollen und Brauchen.

Mehr und immer mehr zu wollen – falls das nicht unsere „Natur“ als Mangelwesen war (schwieriger Begriff), so ist es uns zur „zweiten Natur“ geworden. Wir wurden in einem akkumulativen System sozialisiert. Die asketische Gegenfrage zum akkumulativen Wollen lautet: Was brauche ich wirklich?

Die Askese der Zukunft fängt damit an, diese Frage immer häufiger zu stellen.

Die akkumulative und die asketische Ausrichtung – das Streben nach Mehr und die Suche nach dem richtigen Maß – sind die zentralen Triebkräfte eines Lebenswegs. Schon die antike Heldenreise erzählt von dieser Differenz; und dieses Erzählmuster setzt sich fort bis in die Mainstream-Drehbuchtheorie von heute. In jedem Hollywoodfilm geht es um die Unterscheidung von Wollen und Brauchen, „Want“ und „Need“.

Was will ich? Die akkumulative Frage steht am Anfang jeder Heldenreise. Der Held hat ein Ziel im Sinn, er will mehr. Deswegen überschreitet er die Schwelle. Auf dem Weg zu seinem Ziel stößt er auf Hindernisse, Widerstände, kommt ihm näher, entfernt sich wieder von ihm durch Rückschläge und erlebt eine Krise, einen Wendepunkt. Dem Helden wird klar, dass das, was er will, nicht das ist, was er wirklich braucht. An die Stelle des Willens, der ihn geleitet hat („Want“), tritt die Erkenntnis seiner Bedürfnisse („Need“). In dem er erkennt, was er wirklich braucht, erkennt er sich selbst.

So lässt sich beinahe jede Geschichte verstehen: als Widerstreit des akkumulativen Prinzips mit dem asketischen.

Der Bogen einer jeden Geschichte führt gleichsam durch die Tore des Orakels von Delphi: Der Held erkennt sich – erkennt, was er wirklich braucht – und findet nach den Anmaßungen, Übertretungen und Irrtümern seiner Reise das richtige Maß, das ihm gemäße Verhältnis zur Welt und zu sich: Er wird der, der er ist.

Die Heldenreise ist ein Modell für Erfahrung: Sie beschreibt den Weg als einen Aushandlungsprozess zwischen „Want“ und „Need“. Im Laufe dessen erkennt der Held, dass das, was er will, nicht das ist, was er wirklich braucht. Ihm wird klar, was ihn eigentlich bewegt.

Der Weg ist also nicht das Ziel, sondern dessen Korrektur. Im Idealfall führt er nicht zum Ziel, sondern zum Grund – dem Warum der Reise.

Das schmälert die Bedeutung des Wegs nicht im Geringsten. Die Erfahrung des Wegs als Erkenntnisprozess ist unerlässlich, weil im Wollen das Brauchen verborgen ist. Es ist überlagert von Erwartungen, eigenen und fremden, von Vorstellungen und Bildern im Kopf, die an der Realität nicht erprobt sind. In der Wechselwirkung zwischen den Widerständen der Wirklichkeit und dem, was der Held dabei über sich erfährt, wird aus der Reise der Akkumulation („Want“) eine Suche im asketischen Sinne nach dem Wenigen und Wesentlichen („Need“).

Der Weg wird zum eigenen Weg, indem man ihn geht. Er entsteht im Gehen.

Sie kennen das. Dieser Aushandlungsprozess zwischen Wollen und Brauchen, zwischen dem akkumulativen und asketischen Prinzip gehört zu Ihrer täglichen Praxis als Architektinnen und Architekten. In den Gesprächen mit den Bauherren über deren Vorstellungen beschreiten Sie einen Weg der Annäherung von „Want“ und „Need“. Die Akkumulation im Kopf – die Aufhäufung von eigenen Vorstellungen, Fremderwartungen, vorgefertigten Bildern – muss nicht nur mit dem Machbaren abgeglichen werden; sie wird gleichsam Schicht für Schicht abgetragen mit Blick nicht auf das Ziel, sondern auf den Grund. Im besten Fall entsteht durch Dialog und Modell, durch fortschreitende Konkretion und Realitätsnähe ein Erkenntnis- und Klärungsprozess, in dem sich nach und nach herauskristallisiert, was wirklich gebraucht wird. Am Ende dieses gemeinsamen Wegs steht idealerweise das richtige Maß – nicht als Metapher, sondern buchstäblich in Gebäudeform.

Doch der Weg selbst ist kein Ideal, sondern eine Realität. Er ist von vielen Gemengelagen, Abhängigkeiten, Zwängen fremdbestimmt. Zeit, Geld, das Zwischenmenschliche und das Gesamtgesellschaftliche, all diese Faktoren beeinflussen den Weg, der eben nicht wie in der Fiktion durch eine reine Erkenntnissphäre führt, sondern durch ein Dickicht der Interessen, Ungleichheiten, Macht- und Statusgefälle. Wäre der Weg immer ein idealer, gäbe es die „Architektur der Bescheidenheit“ längst.

Theodor W. Adorno wird der Satz zugeschrieben: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“ In abgewandelter Form könnte man sagen: „Es gibt keinen richtigen Weg im Falschen.“ Und das scheint mit Blick auf so manches reale Dilemma im Berufsalltag oft nur zu wahr. Und dennoch gibt es immer eine Wahl, sich an dem akkumulativen oder dem asketischen Wertesystem zu orientieren. Es gibt ein So oder So, eine individuelle Entscheidung für das Eine oder das Andere. Um mit dem Wortlaut von „Das Wenige und das Wesentliche“ zu sprechen: „Es gibt im Falschen eine richtige Richtung.“

Die Richtung ist entscheidend – wie bei jedem Weg. Richtung ist Sinn, so wie umgekehrt die Richtungslosigkeit, die nirgendwohin führt, die Sinnlosigkeit des Weges ist.

Ein großer Schritt auf diesem Weg ist bereits, sich darüber klar zu werden, in welchem Diskurs, in was für einer Diskussion sind wir eigentlich? Welches Bezugssystem liegt unserer Auseinandersetzung zugrunde, das akkumulative oder das asketische? Ohne die Klarheit darüber, in welchem Rahmen eine Lösung gesucht, gibt es keine.

Und weiter: „Das Wenige ist die Methode, um zum Wesentlichen zu gelangen.“ Insofern ist der von Ihnen ausgegebene Begriff der „Reduktion“ nicht nur ein Gebot der Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung, sondern auch eine Methode, um durch das akkumulative Zuviel hindurch zum richtigen Maß zu kommen.

Es bleibt jedoch ein Erkenntnisprozess. Der Minimalismus als Stilprinzip ist keine vollgültige Antwort auf den Maximalismus des Akkumulativen. Reduktion ist eine Methode, um zur Erkenntnis dessen zu gelangen, was ich bin und brauche. Sie ist aber kein Patentrezept. Der Minimalismus erhebt die Methode zur Lösung, zum stilistischen Dogma und verkürzt damit den Weg der Erfahrung, indem er zum Mittel des Wenigen greift, anstatt sich bis zum Wesentlichen vorzuarbeiten. Nur gibt es bei Erkenntnisprozessen keine Abkürzungen.

Die Suche nach dem richtigen Maß ist vordringlich eine inhaltliche, keine stilistische. Man kann nicht eines der delphischen Tore – das Tor der Erkenntnis – links liegen lassen und schnurstracks zur Abmessung des Wenigen und Wenigsten schreiten.

Reduktion ist eine Arbeitshypothese für eine Architektur der Bescheidenheit, ein begründeter Anfangsverdacht auf der Suche nach dem richtigen Maß. Doch man sollte die Methode nicht mit der Antwort verwechseln und den Stil nicht mit dem Inhalt.

Genauso wenig kann man sich das Mühselige und Schmerzhafte des Erkenntnisprozesses ersparen, indem man das einmal Erkannte für endgültig erklärt. Selbsterkenntnis ist keine finale Erleuchtung, sie ist ein Prozess, den man nicht ein für alle Mal erledigen und abhaken kann nach dem Motto: Jetzt weiß ich, wer ich bin.

Man hört nicht auf, die Person zu werden, die man ist.

Wir sind in einer Geschichte der Veränderung, und wir verändern uns, so wie sich unsere Bedürfnisse ändern mit der Zeit. Das Maß, das für mich richtig ist, verschiebt sich. Es ist neu zu justieren und will wie jedes Gleichgewicht immer wieder ausbalanciert und gefunden werden.

Identität ist ein Ineinander von Sein und Werden, Wesen und Veränderung – so wie in dem Rätsel der Sphinx: der Frage nach der Identität des Tiers, das am Morgen auf vier Beinen geht, am Mittag auf zwei Beinen und am Abend auf dreien. Es ist das Rätsel von Identität und Veränderung. Und seine Wahrheit ist eine Zeitliche.

Die asketische Frage stellt sich immer wieder neu.

Von Lebensalter zu Lebensalter verändert sich, was mir entspricht. Die Antwort auf die Frage, was ich wirklich brauche, fällt von Zeit zu Zeit, von Stunde zu Stunde anders aus – an einem Tag, in einem Leben.

Die eigentliche Kunst der Askese besteht nicht im Überwinden der eigenen Bedürfnisse, sondern in dem Gespür für sie, nicht in eiserner Konsequenz, sondern im Mitgehen mit der Veränderung. Und sie gelingt im Genügen.

Das richtige Maß verschiebt sich mit der Zeit, im Laufe eines Lebens, doch es wird, wenn ich zurückblicke, das Maß meiner selbst gewesen sein.

So wie bei der Geschichte, in der wir sind, müssen wir auch mit Blick auf uns selbst Identität und Veränderung zusammendenken. Transformation und Essenz sind Teil des Rätsels einer gelebten, lebenden Identität.

Selbsterkenntnis heißt nichts anderes als sich in Veränderung sehen, sich im Wandel wiedererkennen.

Die Zeitlichkeit der asketischen Antwort, das Prozesshafte von Identität in der Veränderung verhält sich asynchron zur Architektur im herkömmlichen Sinne. Die Uridee des Bauens ist das Bleibende, Stabile, die Pyramide für die Ewigkeit. Eine Architektur der Bescheidenheit muss sich auch von diesem Anspruch trennen und die Hybris der Überzeitlichkeit abstreifen. Sie wird mit der Veränderung mitgehen, sich dem Wandel der Bedingungen und Bedürfnisse anpassen.

Eine Architektur des richtigen Maßes muss Essenz und Transformation gleichermaßen bedenken.

Das ist beschämend leicht gesagt und unendlich schwer getan, doch es ist der Prozess, in dem wir sind. Die Verbindung von Transformation und Essenz im Raum will angesichts der sich rasant verändernden Bedingungen und der damit einhergehenden Veränderung der Bedürfnisse entworfen sein. Sie ist der Schritt voraus auf dem Weg einer Wende, die kommen wird. Zwangsläufig.

Reduktion bedeutet in diesem Zusammenhang, das Wenige herauszuarbeiten, das wesentlich ist, und es für die Veränderung zu öffnen oder offenzuhalten. Gesucht werden Entwürfe für eine neue Lebensweise, für eine asketische, transformative Architektur, die mit den Bedürfnissen ihrer Bewohner mitwächst, mitschrumpft, mitlebt und die Gleichgewichte der Zukunft ermöglicht – unter extremeren Bedingungen als denen, die wir kennen.

Die akkumulative Steigerungslogik des Höher, Schneller, Weiter hat sich nach dem Überschreiten aller Belastbarkeitsgrenzen als zerstörerisch erwiesen. Die Glücksversprechen des Mehr- und Immer-Mehr sind verbraucht. Der Sisyphos des Konsums, der den Stein seines Willens zu immer neuen Gipfeln hinaufwälzt, um dann mitansehen zu müssen, wie er immer wieder hinunterrollt, ist als Muster die Wiederholung und Verschwendung entlarvt. Es gibt kein Gleichgewicht auf dem Gipfel, kein Genug im Maximum. Befreien kann sich Sisyphos aus dem Akkumulationszwang des Konsums nur durch die asketische Frage und den Wechsel des Bezugssystems vom Maximum zum Maß im Umgang mit der Natur, der Welt und sich selbst.

 Der Wendepunkt von der akkumulativen zur asketischen Denk- und Lebensweise war noch nie so nah. Analog zur antiken Heldenreise sind wir an dem Punkt der Nimmerwiederkehr, am Kipppunkt der Krise, an dem sich der Unterschied von „Want“ und „Need“ so deutlich zeigt und der Held erkennen muss, dass das, was er will oder wollte, nicht das ist, was er braucht. Die offene Frage ist, ob wir die Wende vom „Want“ zum „Need“ vollziehen, ob wir sie mitgehen und mitgestalten. Kommen wird sie, die Wende zur Not. Mit absoluter Notwendigkeit.

So oder so.

Nachrede

 Damit bin ich am Ende meines Vortrags und am Beginn meines Buchs „Das Wenige und das Wesentliche“, dem Versuch einer weltlichen Askese der Zukunft: einer Philosophie des richtigen Maßes, deren Gelingen im Genug liegt; eines Verständnisses von Reduktion als der Kunst, das wegzulassen, was nicht fehlt; eines Verständnisses der Zeitlichkeit und Veränderlichkeit dessen, was wir sind und werden, von Transformation und Essenz. Deswegen gestatten Sie mir, dass ich als Epilog dieser Rede den Anfang des Buches zitiere, bei dem Sie das Privileg genießen, schon verstanden zu haben, was die Leserinnen und Leser erst im Laufe des Buches verstehen werden:

 DAS WENIGE UND DAS WESENTLICHE

 „Das größte Missverständnis der Askese

Ist der Verzicht

 

In der Askese der Zukunft

Die aus keiner Religion kommt

Und keinem System dient

Geht es nicht ums Verzichten

Es geht darum zu erkennen

Wie wenig ich brauche

 

Was brauche ich wirklich

 

Askese, in wenigen Worten

Ist die Übung der Konzentration auf das Wesentliche

Eine Verständigung

Über die Frage

Worauf es ankommt

 

Das Wenige

Ist die Methode

Um das Wesentliche zu erkennen

Wenn das Wenige dem Wesentlichen entspricht

Ist das Glück

 

Die Askese der Zukunft ist nichts anderes

Als die Suche nach einer Lebensweise

Die kein „way of life“ ist, kein „lifestyle“

Es ist die Übung der Umwandlung

Vorgefertigter Bilder

Bildgewordener Erwartungen

Wie man zu leben hat

In die Erkenntnis

Wie lebe ich richtig

 

Diese Erkenntnis verändert die Welt“

  

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!