Themen

,

SELBSTSTÄNDIG – LASST UNS ETWAS WAGEN!

17. Oktober 2022

© Nicole Richter

Die Zahl der Selbstständigen in Deutschland hat ein so geringes Niveau erreicht, wie es zuletzt im Jahr 1997 gemessen wurde, heißt es in einem Bericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) von 2022. Offensichtlich ist gerade kein guter Zeitpunkt, um im Tausch für mehr berufliche Autonomie ein höheres ökonomisches Risiko einzugehen.

Ob dieses Risiko ein Grund ist, warum wenige Frauen den Schritt in die Selbstständigkeit wagen, bleibt Spekulation. Im Bund Deutscher Architektinnen und Architekten BDA NRW sind gerade mal 14,3% der Mitglieder Frauen. Dabei gehen mehr als die Hälfte der erfolgreichen Studienabschlüsse des Fachbereiches Architektur an den Hochschulen und Universitäten auf das Konto von Absolventinnen. Wo sind all die gut ausgebildeten Kolleginnen hin, wenn Sie den Abschluss in der Tasche haben und was hindert sie daran ein eigenes Büro zu gründen oder sich in Führungspositionen der Architekturbüros durchzusetzen? Diesen Fragen sollte sich ein ganztägiges Seminar für Absolventinnen und junge Architektinnen des BDA NRW mit dem Titel „Selbstständig – lasst uns etwas wagen!“ in der Feuerwache in Köln am 30. September widmen.

Ein Seminar, dass sich explizit an die weiblichen Kolleginnen richtet? Ist das noch zeitgemäß? Der Vortrag von Christina Budde sprach dafür, in dem sie den Bogen über 100 Jahre Frauen in der Architektur spannte. Sie war Co-Kuratorin der Ausstellung „Frau Architekt“, die 2018 im DAM ausgestellt wurde und seither durch Europa tourt. Die Wahrnehmung von Architektinnen in der Öffentlichkeit, ihre Würdigung mit Architekturpreisen und der anhaltende, breite Diskurs zu Gleichstellungsfragen in der Branche belegen die Aktualität des Themas.

Unter den rund 30 Teilnehmerinnen waren Masterstudentinnen, junge Architektinnen in Büros aller Größenordnungen und solche, die vor der Entscheidung stehen in die Geschäftsleitungsebene einzusteigen. Sogar Kolleginnen, die den Sprung in die Selbstständigkeit vor wenigen Wochen tatsächlich gewagt hatten, waren gekommen. Die Fragen, die sie mitgebracht hatten, waren vielfältig. Allen gemein war der Wunsch nach Vernetzung und Erfahrungsaustausch.

v.l. Ragnhild Klußmann, Stephanie Bücker, Maike Holling und Sielke Schwager

Stephanie Bücker, Maike Holling und Sielke Schwager von MS Plus Architekten BDA aus Münster erklärten, wie ihr Büro unter rein weibliche Leitung funktioniert, wie sie Familie und Beruf unter einen Hut bringen und welche Akquisewege oder Netzwerke sie nutzen.

Mit WC-Anlagen und Pausenräumen „Architektur machen, wo es keinen interessiert“. So beschrieb Christina Jagsch von Jagsch Architekten BDA die ersten Schritte ihrer Selbstständigkeit. Wie sich die eigene Tätigkeit vom Einfraubüro bis hin zur Geschäftsführerin mit Angestellten veränderte, veranschaulichten zahlreiche Anekdoten aus ihrem Arbeitsalltag: „Man muss mindestens 100 Entscheidungen am Tag treffen und manchmal eben auch den Rasen mähen.“

Um die Verantwortung für die eigenen Angestellten ging es auch Annette Paul. Sie führt ihr Büro Lorber Paul Architekten mit mittlerweile über 20 Mitarbeiter:innen in Köln gemeinsam mit Gert Lorber. In den 25 Jahren seit ihren Anfängen bei club a, ihrer Arbeit an der Uni, dem Laufstall im Büro und dem Maxicosy beim Symposium hat sich in ihrem eigenen Unter-nehmen genauso viel verändert, wie in Bezug auf die Startbedingungen der jungen Kolleg:innen.

Tischgespräche im Hof der Feuerwache, Köln

Am Ende des Tages wurde viel diskutiert über die Akquise von Aufträgen, das richtige Zeit-management, eine angemessene Selbsteinschätzung, Stolperfallen und Kooperationsmöglichkeiten. Auf eine entscheidende Voraussetzung für eine erfolgreiche Selbstständigkeit führte es Ute Piroeth am Ende zurück.
Es ist die eigene Haltung, die durch all die Herausforderungen, Veränderungen und Zufälle leitet und darüber entscheidet welche Chancen ergriffen und welche verworfen werden. Im Falle von Ute Piroeth eröffnete ihr eine gewisse Grundhaltung der Verweigerung die Freiheit WC-Anlagen wie Theaterbühnen zu inszenieren und Technikbauwerken in Kunstwerke im städtischen Raum zu transformieren.

Die eigene Haltung zur Architektur, zur Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und die Definition von nachhaltigen Lebensräumen muss jeder für sich selbst entwickeln. Das immerhin ist kein so schlechtes Fazit für den Tag, denn es gilt für alle gleich, egal ob männlich, weiblich oder divers.

Nicole Richter