Themen

Nachbericht: Utopien für Sennestadt

16. Oktober 2019

Einen besseren Ort für die Veranstaltung hätte man sich nicht aussuchen können: Das ehemalige Rathaus des Stadtteils Bielefeld-Sennestadt. 80 Studierende der technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe sind aufgerufen, Perspektiven für eine Weiterentwicklung des als Prototyp einer Stadtgründung im Wiederaufbau geltenden Sennestadt zu entwickeln.

Die Sennestadt – bei ihrer Gründung noch selbständige Gemeinde und 1973 zu Bielefeld eingemeindet – war die erste Stadtgründung nach dem Zweiten Weltkrieg. 1953 bestimmte der damalige Landkreis Bielefeld den Standort vor den Toren von Bielefeld mit dem Ziel „eine mit Hoheitsrechten ausgestattete Körperschaft zu bauen“. Der unrentable Sandboden mit geringsten Bodenertragswerten – nicht umsonst nannte sich die Sennelandschaft über Jahrhunderte „Desertum Sinethi“ – und die Nähe zu BAB 2 waren Gründe für die Standortwahl gewesen.

Der Anlass der Stadtgründung war vergleichbar mit denen anderer städtebaulicher Projekte aus jener Zeit: Ein dramatischer Mangel an Wohnraum durch die Zerstörung der Städte, der Zuzug zu den Arbeitsstätten aus anderen Teilen Deutschlands, der Strom der Flüchtlinge und die geringen Baulandreserven.

©Hans-Bernhard-Reichow-Gesellschaft

Hans Bernhard Reichow (25.11.1899 – 7.5.1974)

Für den Ideenwettbewerb von 1954 gingen 24 Entwürfe ein, den ersten Preis erhielt der Entwurf von Prof. Dr.  Hans Bernhard Reichow (1899-1974). Reichow hatte 1948 sein Konzept für neu zu bauende Stadtteile oder Städte außerhalb der Stadtagglomerationen entwickelt und dieser Konzeption das Leitbild der „organischen Stadtbaukunst“ verliehen. Reichow war mit dem gebauten Ergebnis zufrieden und resümierte geradezu apodiktisch: „Unter soziologischem Aspekt wurden alle Erwartungen an die Stadt nach wissenschaftlichen Erhebungen weit übertroffen.“

Reichow hat immer wieder betont, dass die Sennestadt keine Gartenstadt sei, vielmehr offenbare sich die Stadtlandschaft als „bewußt geplante NEUE STADTFORM, in der die Natur als gleichberechtigtes Gestaltungselement sich mit den gebauten Stadtgliedern zu harmonischer Einheit verbindet.“

©Hans-Bernhard-Reichow-Gesellschaft

Das Erschließungssystem von Sennestadt (Stand 1964)

Wie soll sich die Sennestadt weiterentwickeln, welche Utopien sollen geschaffen werden? Welche Entwicklungsprinzipien sind einem Stadtteil zugrundezulegen, der nach einem ganzheitlichen und stringenten Konzept entstanden ist, das kaum Abweichungen zulässt? Nachverdichtung? Erweiterung des Siedlungsgefüges? Und wenn in welcher Form und in welcher Richtung? Welche städtebauliche Mittel sichern Urbanität und schaffen einen attraktiven öffentlichen Raum? Der große städtebauliche Entwurf von Reichow erweist sich als große Hypothek, die einen sorgfältigen Umfang erfordert. Nicht nur für Studierende eine anspruchsvolle Aufgabe.

Die Aufgabe bewegt sich in einem Dilemma, dass schon 1991 als „Städte für vorübergehende Aufgaben“ beschrieben wurde. Jede Stadt sei ein Kind des Augenblicks und vermag nicht, sich im Wandel der Geschichte fortzuentwickeln (Wolfgang Braunfels: Abendländische Stadtbaukunst, Köln 1991).

Die Aufgabe an die Studierenden ist damit ebenso herausfordernd wie ihre Ergebnisse Spannung versprechen.

Dabei vermittelte die Auftaktveranstaltung im ehemaligen Sennestädter Rathaus erste Hinweise und einen qualifizierten Input. Zunächst breitete Marc Wübbenhorst die Historie der Sennestadt aus. Als Vorsitzender der Hans-Bernhard-Reichow-Gesellschaft und Ortsheimatpfleger schlug er den Bogen von den städtebaulich-historischen Qualitäten zur heutigen Lebenswirklichkeit. Die Höhengliederung von innen nach außen, die 13 Punkthochhäuser im Zusammenwirken mit den Kirchtürmen seien wesentliche bis heute erkennbare Merkmale des Reichowschen Entwurfes. Auch die Nähe zur umgebenden Landschaft, dem Teutoburger Wald und dem Bullerbachtal trügen zur Besonderheit der Sennestadt bei. Die heutige Zeit bilde sich unter anderem im veränderten Einkaufsverhalten ab. Leerstände und Discounter sind ihre Ergebnisse, die durch einen zwei Mal in der Woche stattfindenden Markt wenigstens teilweise entschärft würden.

Wübbenhorst erläutert in der Struktur eines Baumblattes das organisch definierte Erschließungssystem. Insofern gebe es weder eine Hierarchie in der Erschließung noch die Priorität des motorisierten Individualverkehrs.

Der städtebaulichen Struktur folge die besondere darauf ausgerichtete Architektur. Wie Fächer ausgeformte Hochhäuser sind ebenso Teil von Sennestadt wie Hausgruppen oder der typische Geschosswohnungsbau, der gerade in den 1950er Jahren eine weit verbreitete Gebäudeform war. In den Grundrissen spiegele sich mit den kleinen Küchen die Lebenswirklichkeit jener Zeit wider.

Postkarten hätten den Stolz der Sennestädter auf ihren Stadtteil dokumentiert. Nicht nur die Freizeitboote auf dem Stadtteich neben dem ehemaligen Rathaus sondern auch die Kunst im öffentlichen Raum zeugten von einem lebendigen Stadtteil.

©Hans-Bernhard-Reichow-Gesellschaft

Sennestadt in den Aufbaujahren

Bernhard Neugebauer, Geschäftsführer der Sennestadt GmbH, lieferte den Studierenden weitere Informationen und Hintergründe vor allem aus aktueller Sicht. So dokumentierte die jüngere Vergangenheit etwa seit den 1990er Jahren einen ständigen Wandel und permanente Anpassungsprozesse. Der Stadtumbau ab 2008 folgte insbesondere den Themen des demografischen Wandels und der Funktionsverluste. Es schlossen sich die energetische Stadtsanierung und das Klimaquartier Sennestadt an. 2017 wurden unter dem Ziel „Stadtlabor für ein nachhaltiges Bielefeld“ modellhafte Projekte, neue Technologien und Finanzierungen sowie das Neues Bauen und eine zweitgemäße Wärmeversorgung verfolgt.

Im Rahmen der Weiterentwicklung von Sennestadt sei eine der Maximen gewesen, „Grundstücke möglichst lange in eigener Hand“ zu halten, um Qualitäten zu sichern, so Neugebauer weiter. Ein aktueller Schwerpunkt bestünde u.a. in Formen der neuen Mobilität, hier müsse eine „Veränderung in den Köpfen“ stattfinden, die auch andere Mobilitätsformen als die tradierten zulasse.

Vordringliche Aufgaben der Sennestadt GmbH bestünden in der Entwicklung von Prozessen, Bildung von und Teilnahme an Netzwerken, der Koordination von verantwortlichen Instanzen im Quartier sowie der permanenten Evaluation und Transparenz. Für die Sennestadt müsse Identifikation geschaffen werden: „Deine Sennestadt – deine Idee“. Ein Teil dieser Strategie läge in der Wertschätzung der Architektur und ihrer Farben. Die Farbgebung der ursprünglichen Entwurfes von Sennestadt folge einem identitätsstiftendem Konzept, das bis heute Grundlage der aktuellen Sanierungsvorhaben sei.

Den Hintergrund, vor dem die Studierenden ihre Arbeiten entwickeln sollen, entfaltete Oliver Hall vom Lehrgebiet Stadtplanung und Städtebauliches Entwerfen der Hochschule Ostwestfalen-Lippe. Unter dem Stichwort Stadt Land Quartier werden in Detmold Dialoge initiiert, Ansätze vertikaler nutzungsgemischter Quartierte erörtert und Antworten gegeben auf Fragen der städtebaulichen Leitbilder, von neuen Lebensmodellen und Wohnansprüchen und den Anforderungen des Klima- und Naturschutzes. Solche und weitere Fragen fänden sich in der hier gestellten Aufgabe wieder, Utopien für die Sennestadt zu entwickeln.

Die Planstadt Sennestadt sei eingebettet in die Landschaft, fließende Räume, Bezüge zur Landschaft seien wichtige bis heute klar erkennbare Entwurfshintergründe. Dieses historische Erbe müsse Berücksichtigung finden. Erkennbar sei mithin der Spagat zwischen der notwendigen Entwicklung, die zu einem lebendigen Stadtteil dazugehöre und der Rücksichtnahme, um die offensichtlichen Qualitäten des ursprünglichen städtebaulichen Entwurfes nicht zu zerstören.

©Dr. Michael Zirbel

Veranstalter und Podium, v.l.n.r.: Marc Wübbenhorst, Hand-Bernhard-Reichow-Gesellschaft; Bernhard Neugebauer, Sennestadt GmbH; Rainer Mühl, Vorsitzender des BDA Ostwestfalen-Lippe; Volker Crayen, Forum Baukultur OWL, Prof. Oliver Hall, Technische Hochschule OWL

 

Beim Entwurf einer Utopie durch die Studierenden ginge es nicht um unmittelbare Umsetzbarkeit, sie erhielten auch keine Programmvorgaben. Eine vergleichende und kritische Diskussion, die Erörterung von Zielen wie denen der „productive and connected city“ seien Kernelemente der Arbeit. Dazu gehören auch die Natur- und Umweltbelange, die im Entwurf und durch die Lage im Raum einen hohen Stellenwert genießen müsse. Insofern werde es spannend, wie die Ergänzungen am Ortsrand aussehen sollen. Als neue Siedlungsinsel, als verzahnte Struktur, als scharfe Kante?

Die Studierenden stünden vor der Beantwortung von anspruchsvollen Fragen: Welche Wohnangebote sind zu schaffen und welche das Wohnen ergänzende Funktionen? Wie kann das Prinzip der autogerechten Stadt weitergedacht werden und wie muss eine neue Vernetzung im Quartier aussehen?

Auf die Ergebnisse – geprägt von der Utopie „Reichow 2.0“ –  darf man gespannt sein.

 

 

Dr. Michael Zirbel, BDA

Nachbericht zur Veranstaltung vom 9. Okt 2019 in Bielefeld im Rahmen der Landesreihe „Stadt in Bewegung – mobil ökologisch lebenswert“ des BDA NRW